Umweltverschmutzung, Klimawandel, Flüchtlingskrise, Wirtschaftskrise, Kriege, … es ist im Grunde egal auf welchen Bereich der Gesellschaft wir blicken, überall begegnen uns Missstände, Krisen und Notsituationen. Aktuell befinden wir uns in einer Pandemie, inmitten der Coronakrise. Unsere Gesellschaft wird einmal mehr auf den Prüfstand gestellt. Der Spiegel unserer Lebensweise wird uns vorgehalten und grundlegende Fragen gestellt. Diese Krise durchdringt sämtliche Ebenen gesellschaftlicher Organisation und hat Auswirkungen auf die Politik, die Wirtschaft, familiäre Strukturen und die soziale Ordnung. Doch was bedeutet das nun genau? Und wo machen wir weiter?
Demokratie? Der Notstand macht Menschenrechte verhandelbar!
Demokratische Rechte wie etwa Versammlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, politische Diskussionen, die gerade in Mitteleuropa als selbstverständlich gelten, werden außer Kraft gesetzt.
Unter dem Deckmantel einer gesundheitlichen Bedrohung, eines Notstandes, werden Menschenrechte verhandelbar und wir Mitteleuropäer*innen, die Kriege „nur“ in ausgelagerter Form kennen, spüren zum ersten Mal deutlich wie sich staatliche Macht anfühlt und wie schnell mühsam erkämpfte Grundrechte stündlich beschnitten und verändert werden oder ihre Gültigkeit völlig verlieren.
Diese Aushebelung demokratischer Prinzipien können wir auch mit Blick auf die Art und Weise wie Entscheidungen getroffen werden beobachten, indem wir uns fragen dürfen: Wer entscheidet?
Wir sehen wie eine zunehmende Hierarchisierung stattfindet und dass weder Personen aus den viel beklatschten, systemrelevanten Berufen primär an den Entscheidungen beteiligt sind, noch jene Personen, denen in Zeiten des Notstandes ihre Existenzgrundlage genommen wird.
Der Markt regelt alles? Eine trügerische Ideologie!
Mit Blick auf die Wirtschaft sehen wir, wie die Prinzipien der neoliberal-kapitalistischen Marktwirtschaft nicht mehr umsetzbar sind. Der Markt als oberste regulierende Kraft – eine trügerische Ideologie die ihren Wert verliert, wenn es darum geht das Leben zu sichern. Gleichzeitig werden nun die Missstände, die diese Ideologie über Jahrzehnte produziert hat, sichtbarer.
Gerade mit Blick auf die systemrelevanten Berufe sind wir mit einem Mangel auf allen Ebenen konfrontiert. Es fehlt an Pflegefachkräften, an Ärzt*innen. Es fehlt an der notwendigen Ausstattung, die eine ausreichende medizinische Versorgung garantieren könnte. Es fehlt auch an fairen, strukturellen Rahmenbedingungen, die z.B. eine gerechte Bezahlung garantieren könnten. Und daran schließt immer wieder die Frage an, wer hat die Deutungshoheit, bestimmte Berufe als systemrelevant und andere als irrelevant zu bezeichnen? Was ist eigentlich genau mit dem “System” gemeint?
Wer sorgt sich um uns? Wie Corona die Ausbeutung von Frauen verstärkt!
Familien finden sich in neuen Situationen wieder. Die in den letzten Jahren zunehmend ausgelagerten Aufgaben der Fürsorge und Versorgung der Generationen, also von Kindern und älteren Personen, werden plötzlich wieder zurück in die Familien verlagert bzw. um genauer zu sein, auf die Frauen in den Familien abgewälzt.
Der Notstand legitimiert diese Akzentuierung geschlechtsspezifischer Ausbeutungsverhältnisse ohne, dass die innerhalb der Familien kostenlos erbrachten Caretätigkeiten eine Aufwertung erfahren und ihre gesellschaftliche Bedeutung jene Anerkennung bekommt, die ihnen gebührt. Stattdessen können wir beobachten, wie z.B. das Homeschooling primär als eine technische Herausforderung gesehen wird, ohne dass strukturelle Unterschiede in den Familien näher berücksichtigt wurden, wodurch gerade Kinder aus ärmeren und bildungsfernen Haushalten ausgegrenzt wurden und werden.
Coronakrise eine Krise von Care! Die Pandemie macht ein Verdrängen unmöglich!
Wenn wir uns die aktuellen Missstände und Schieflagen genauer ansehen, dann werden wir auch entdecken, dass die Coronakrise keine neuen Nöte schafft, sondern vielmehr jene gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen verschärft, die wir schon lange kennen, doch bislang noch irgendwie verdrängen konnten. Armut in den Familien, Gewalt in den Familien, das systematische Aushungern der medizinischen Versorgung (Pflegenotstand), die Zunahme an psychischen Erkrankungen, prekäre Arbeitsverhältnisse, Arbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen, u.v.m.
Die Methoden und Techniken der Verschleierung dieser gesellschaftlichen Missstände, wie der Minimierung und der Negation offensichtlicher Zusammenhänge oder der Umdeutung von Missstständen als persönliches Scheitern im Sinne einer mangelnden Eigenverantwortung inmitten einer Welt voller Möglichkeiten oder der Implementierung neuer Wertvorstellungen wie jener der Unabhängigkeit oder der Naturalisierung von Carearbeit als instinkthaftes Handeln von Frauen, haben ausgedient.
Wir kommen nicht mehr umhin anzuerkennen, dass die Coronakrise jene grundlegende Krise von Care sichtbar macht, mit der sich unsere patriarchal-kapitalistisch-neoliberale Gesellschaft seit langem konfrontiert sieht.
Wir müssen anerkennen, dass unsere aktuelle gesellschaftliche Organisation, die wir auch als Patriarchat bezeichnen können, darauf aufbaut, dass sämtliche Caretätigkeiten parasitär ausgenutzt werden. Ausgenutzt und ausgebeutet indem die, mit Beginn der Neuzeit eingeführte Spaltung zwischen produktiver Arbeit und Reproduktion, alle Tätigkeiten im Feld der Reproduktion dem weiblichen Geschlecht zuweist. Diese somit als weibliche Tätigkeiten definierte Arbeit, kann dem androzentrischen Grundsatz (der nur den Mann als menschliches Ideal anerkennt) folgend, abgewertet werden und ihr muss keine Wertschätzung, sei es in Form von monetärer Gegenleistung, sozialer Absicherung oder Ähnlichem entgegengebracht werden.
Andererseits sehen wir auch mit Blick auf die Careberufe, dass selbst der Versuch, Caretätigkeiten in das Feld der Produktion zu bringen, keine wesentliche Veränderung bringt. Careberufe werden im allgemeinen als klassisch weibliche Berufe bezeichnet, wodurch wiederum ihre geringe Bezahlung legitimiert werden kann und trotz der aktuell viel diskutierten Systemrelevanz ein Applaus die maximal mögliche Form der Anerkennung scheint.
Und nun? Die Logik von Care verstehen!
Was machen wir nun mit dem Wissen über die Carekrise? Wie genau können wir diesem System der Abwertung und Negation menschlicher Interdependenz und Bedürftigkeit beikommen und Alternativen entwickeln?
Nachdem wir die unterschiedlichsten Nöte und Missstände, die ich hier sehr unvollständig skizziert habe verstanden haben, dürfen wir uns nun dem Thema Care nähern und versuchen zu verstehen, wie genau Care funktioniert und welcher Logik Care folgt. Wir dürfen uns eine beliebige Caretätigkeit vorstellen und wir werden erkennen, dass Care im wesentlichen immer eine Antwort auf Bedürfnisse darstellt, die eine Person oder eine Gruppe von Personen haben.
Wenn Care also eine Antwort auf Bedürfnisse ist, setzt das voraus, dass die Bedürfnisse der Person oder der Gruppe bekannt sind. Spätestens hier wird klar, dass die Bedürfnisse des Gegenübers nur erkannt werden können, wenn ein Kontakt, eine Beziehung zur anderen Person/Gruppe besteht. Eine Beziehung, die auf Vertrauen fußt und die eine kontinuierliche Interaktion voraussetzt, da Bedürfnisse nie statisch sind sondern einem stetigen Wandel unterliegen.
Weder das Social Distancing, noch die Maxime der Individualisierung lässt sich halten, wenn eine Gesellschaft sich entlang der Logik von Care gestaltet. Care fußt somit auf einem relationalem Wissen, einem Wissen, dass über die Interaktion von Subjekten generiert wird und auf deren Beziehung sowie dem Anliegen die Bedürfnisse des Gegenübers zu erkennen aufbaut.
Ubuntu - Ich bin weil ich dazu gehöre
Eine zentrale Voraussetzung für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel ist somit die Anerkennung der gegenseitigen Interdependenzen zwischen den Menschen, als auch zwischen Mensch und Natur im weitesten Sinne und der Verabschiedung jeglicher spaltender Ideologie, die auf Unabhängigkeit baut und Individualismus predigt und Menschen aufgrund ihrer Merkmale (Geschlecht, Hautfarbe, Staatsangehörigkeit, Alter u.ä.) auf oder abwertet.
Doch allein dieses Wissen reicht nicht aus, damit gesellschaftliche Transformation auch gelingen kann. Im nächsten Schritt müssen wir uns ganz konkret damit beschäftigen, wie Alternativen aussehen könnten.
- Was genau muss auf der politischen Ebene verändert werden, damit vermeintliche Grundrechte nicht einfach ausgehebelt werden können?
- Was genau muss auf der wirtschaftlichen Ebene verändert werden, damit Ressourcen nicht mehr zerstört werden und menschliche Tätigkeiten nicht mehr ausgebeutet werden?
- Was genau muss auf der sozialen Ebene passieren, damit Familien wie ein Netz der Fürsorge funktionieren können und nicht von Armut und Gewalt dominiert werden?
- Was genau muss verändert werden, damit ein Verständnis von Kultur geschaffen werden kann, wo das Leben geschützt und geehrt wird?
Die Lösung liegt im Matriarchat?
Dies sind alles große Fragen, die erschrecken können und auch das Gefühl der Aussichtslosigkeit entstehen kann, weil die notwendigen Veränderungen zu groß, zu allumfassend scheinen. Aus diesem Grund kann es sehr beruhigend sein zu wissen, dass wir das Rad nicht neu erfinden müssen. Es gibt Gesellschaften deren Zusammenleben nach anderen Prinzipien funktioniert. Deren Gesellschaftssystem um die Logik von Care weiß und diese als ihr zentrales Paradigma in die Mitte gesellschaftlicher Organisation stellt. Die Rede ist hier von egalitären Gesellschaften – den Matriarchaten.
In meinen folgenden Beiträgen werde ich konkreter auf die matriarchale Gesellschaftsform eingehen und Antworten auf die vorab formulierten Fragestellungen suchen. Bleiben Sie neugierig!