Sexualität zwischen Gewalt und Freiheit – Was wir von matriarchalen Kulturen lernen können
Zwischen Dauerpräsenz und Tabu
Sexualität ist allgegenwärtig – in Werbung, Serien, sozialen Medien. Gleichzeitig bleibt sie eines der großen gesellschaftlichen Tabus. Über Verhütung, Menstruation, Lust oder Grenzen wird kaum offen gesprochen. Besonders Frauen erleben dieses Spannungsfeld intensiv: Ihre Sexualität ist entweder bedroht oder beschämt, kontrolliert oder entwertet.
In kaum einem anderen Lebensbereich zeigt sich die Gewalt des Patriarchats so klar wie hier. Sexualisierte Übergriffe sind Alltag. Der weibliche Körper wird objektiviert, Besitzansprüche auf ihn legitimiert. Frauen, die ihre Sexualität selbstbestimmt leben wollen, stoßen schnell an moralische, soziale oder sogar existenzielle Grenzen.
Doch es gibt Alternativen.
Matriarchale Gesellschaften zeigen, dass Sexualität frei, respektvoll und gemeinschaftlich eingebettet gelebt werden kann.
Sexualität im Patriarchat: Kontrolle, Scham und Gewalt
In unserem patriarchalen System ist Sexualität oft weniger Ausdruck von Nähe als ein Mittel zur Machtausübung. Sexualisierte Gewalt betrifft mehrheitlich Frauen – und wird häufig durch gesellschaftliche Mythen legitimiert. Wer sich „zu freizügig“ gibt, wird als „selbst schuld“ betrachtet. Täter werden entlastet, Opfer beschämt.
Pornografie zeigt den weiblichen Körper als Objekt. Weibliche Lust ist entweder unsichtbar oder stigmatisiert. Gleichzeitig gilt männliche Sexualität als aktiv, notwendig, dominierend. Diese Doppelmoral durchdringt auch institutionelle Strukturen wie Ehe oder Familie: Frauen sollen treu, grundsätzlich „anständig“ und in der Beziehung sexuell verfügbar sein während Männern große sexuelle Spielräume eingeräumt, bzw. sie für sexuelle Aktivität sogar Anerkennung bekommen.
Diese Systeme beruhen nicht auf natürlichen Gegebenheiten, sondern auf jahrtausendealten politischen Machtstrukturen, die weibliche Sexualität kontrollieren. Doch: Diese Ordnung ist historisch gewachsen – und damit veränderbar.
Matriarchale Gesellschaften: Sexualität ohne Angst und Kontrolle
Matriarchale Gesellschaften zeigen ein radikal anderes Bild von Sexualität: Statt Kontrolle und Scham gibt es Wahlfreiheit, Würde und gegenseitigen Respekt. Sexualität ist nicht tabuisiert, sondern eingebettet in ein harmonisches Zusammenspiel aus sozialer Stabilität, ökonomischer Sicherheit, politischer Gleichwertigkeit und spiritueller Sinngebung.
1. Soziale Ebene: Zugehörigkeit durch Clanstrukturen statt durch Paarbindung
In matriarchalen Kulturen lebt Menschen in Clans, die durch die Mutterlinie organisiert sind. Alle Mitglieder einer Sippe – Brüder, Schwestern, Tanten, Onkel, Kinder – leben gemeinsam unter einem Dach. Jeder Mensch gehört unweigerlich dazu. Diese stabile soziale Zugehörigkeit entsteht nicht durch romantische Bindung, sondern durch Geburt.
Kinder werden gemeinsam aufgezogen, Männer und Frauen teilen sich die Fürsorge. Die biologische Vaterschaft spielt keine gesellschaftliche Rolle – was eine radikale Entlastung für Frauen bedeutet: Sie müssen keinen Mann „halten“, um ihre Kinder zu versorgen. Beziehungen sind rein freiwillig, ohne Verpflichtung zur Ko-Erziehung oder ökonomischer Bindung. Dadurch werden Sexualität und Liebe entlastet – sie sind frei wählbar, nicht zweckgebunden.
2. Ökonomische Ebene: Gemeinsames Eigentum schafft Freiheit
Eigentum ist in matriarchalen Gesellschaften Gemeinschaftssache. Land, Haus, Vorräte – all das gehört der Sippe, nicht dem Einzelnen. Frauen, besonders die Matriarchin, verwalten die Ressourcen. Niemand ist ökonomisch auf einen Partner angewiesen.
Diese Struktur ermöglicht wahre Unabhängigkeit: Sexualität ist entkoppelt von wirtschaftlicher Versorgung. Frauen müssen sich nicht „absichern“, Männer müssen keine „Versorgerrolle“ erfüllen. Beziehungen basieren auf gegenseitiger Zuneigung, nicht auf Tauschlogik oder Abhängigkeit. Gewalt und Zwang verlieren damit ihre Grundlage.
3. Politische Ebene: Konsens statt Herrschaft
Politische Entscheidungen werden im Konsens getroffen – auf Ebene des Clans wie auch der größeren Gemeinschaft. Es gibt keine Institutionen, die Macht zentralisieren. Alle Stimmen zählen, auch Minderheitenmeinungen. Verantwortung wird geteilt, nicht delegiert.
Diese egalitäre Ordnung wirkt sich auf alle Beziehungen aus. Wenn niemand über andere herrschen darf, wird auch Sexualität nicht zum Mittel der Kontrolle. Beziehungen entstehen auf Augenhöhe, getragen von Respekt und freiwilliger Verbindung.
4. Spirituelle Ebene: Sexualität als Teil des Heiligen
Spiritualität ist in matriarchalen Kulturen kein abgetrennter Bereich – sie durchdringt den Alltag. Die Welt wird als zyklisch, lebendig und weiblich-schöpferisch verstanden. Sexualität ist Teil dieser kosmischen Ordnung – Ausdruck von Lebensfreude, Verbindung und schöpferischer Kraft.
Der weibliche Körper ist heilig, nicht verdächtig. Sexualität wird nicht moralisiert, sondern gefeiert – etwa durch Feste, Rituale oder Übergangszeremonien. Am Herd, dem spirituellen Zentrum des Hauses, verbinden sich Alltag, Politik und Ritual. Hier zeigt sich: Sexualität ist weder Sünde noch Pflicht – sondern Lebensenergie.
Die Ehe – Ein politisches Konstrukt zur Kontrolle weiblicher Sexualitä
Die monogame Ehe, wie wir sie heute kennen, ist kein uraltes Naturmodell, sondern ein machtpolitisches Instrument. Historisch diente sie dazu, weibliche Sexualität zu kontrollieren, Besitzverhältnisse zu sichern und männliche Abstammung festzuschreiben. Die Einführung patriarchaler Strukturen – wie sie in Westasien und Europa ab ca. 4000 v.u.Z. stattfanden – ging mit Gewalt, Zwang und der Zerschlagung matriarchaler Lebensformen einher. Frauen wurden verschleppt, enteignet und rechtlich untergeordnet. Ihre Sexualität wurde institutionalisiert – als Eigentum des Mannes, als „eheliche Pflicht“, als Mittel zur Sicherung von Nachkommenschaft und Macht. Bis heute wirken diese Muster fort – trotz Gleichstellungsgesetzen. Ehe und Familie sind oft noch Orte ökonomischer Abhängigkeit und sozialer Kontrolle. Eine Befreiung weiblicher Sexualität braucht deshalb auch eine Dekonstruktion dieses Modells.
Ein neuer Weg: Impulse für eine befreite sexuelle Kultur
Matriarchale Gesellschaften zeigen uns: Eine andere sexuelle Kultur ist möglich – frei, gleichwertig, eingebettet. Was können wir konkret daraus mitnehmen?
1. Soziale Sicherheit statt Beziehungszwang
- Lebensgemeinschaften jenseits der Kleinfamilie (Wahlsippen, Mehrgenerationenhäuser)
- Frauen- und Mütterkreise, stabile Netzwerke
- Stärkung der Mutterlinie (z. B. durch Namensgebung, Rituale)
2. Kollektive Fürsorge statt Individualbelastung
- Geteilte Sorgearbeit (Kinder, Pflege) als gesellschaftliche Aufgabe
- Sichtbarkeit und Anerkennung unbezahlter Care-Arbeit
3. Ökonomische Autonomie für alle
- Gemeinschaftliche Wirtschaftsmodelle, Genossenschaften
- Entkopplung von Versorgung und Partnerschaft
- Abschaffung der Ehe als ökonomisches Zwangskonzept
4. Konsens statt Macht
- Demokratische Entscheidungsräume schaffen (z. B. in Schulen, Initiativen)
- Politische Bildung zu gleichwertiger Kommunikation
5. Spiritualität als Verbindung
- Rituale, Jahreskreisfeste, zyklisches Wissen
- Körper- und naturbezogene Achtsamkeitspraxis
6. Sexualität als würdige, freiwillige Begegnung
- Lust- und konsensorientierte Sexualpädagogik
- Öffentliche Räume für Austausch, Körperwissen und Selbstbestimmung
Fazit: Sexualität kann heilsam sein – wenn wir sie befreien
Die patriarchale Ordnung hat Sexualität – vor allem die weibliche – entwertet, beschämt und instrumentalisiert. Matriarchale Kulturen beweisen das Gegenteil: Wenn soziale Zugehörigkeit, ökonomische Sicherheit, politische Gleichwertigkeit und spirituelle Sinngebung ineinandergreifen, kann Sexualität wieder das sein, was sie ursprünglich ist – Ausdruck von Lebenskraft, Nähe, Freude und Verbindung.